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Wie ich ein Westdeutscher wurde

und warum ich deshalb durch Ostdeutschland reise:

Im vergangenen Herbst schaute ich mir einen Film im Kino an, der mich sehr berührte. Und der mich mich zu einem Westdeutschen machte.

In dem Film wird die tragische Geschichte eines Liedermachers erzählt, der nachts in einem Kohlebau arbeitet, um tagsüber Musik zu machen. Ich schaute den Film alleine in einem Berliner Kino und setzte mich danach noch in eine Bar, um die Gedanken zu sortieren.

Der Film heißt „Gundermann“, wie auch der Protagonist. Er war in der DDR eine Art Popstar. Nach der Wende stellte sich heraus: Er war auch Stasi-Mitarbeiter. Doch wo andere Filme urteilen, erzählt Gundermann aus dem Leben des Protagonisten. Der Film erzählt vom Lieben und vom Träumen, von Ängsten und von Fehlern. Er erzählt die Geschichte eines Menschen, nicht mehr.

An dem Abend bemerkte ich zwei Dinge: Zum einen hatte ich vorher noch nie von diesem Mann gehört. Und zum anderen hatte ich bisher nicht so eine Geschichte aus der DDR gehört, eine Alltagsgeschichte.

Später fand ich heraus: Der Regisseur war in Ostdeutschland aufgewachsen und mir wurde klar: Es ist ein ostdeutscher Film, eine ostdeutsche Erzählung. Für mich bedeutete das: Es ist eine Erzählung, die bisher nicht in meinem Leben aufgetaucht war. Denn in meiner Biographie gab es nur westdeutsche Erzählungen.

Die Studentenproteste der 70er, Nena, Udo Lindenberg, die Anti-AKW-Bewegung. Für mich war das immer deutsche Geschichte, aber in Wahrheit sind das alles westdeutsche Erzählungen.

Warum ich das so bemerkenswert finde?

Ich bin im Jahr 1990 geboren, wenige Monate vor der Wiedervereinigung. In meinem Leben hatte das geteilte Deutschland nie eine Rolle gespielt. Dachte ich zumindest immer. In Wahrheit hatte ich meine eigene Herkunft nur nie reflektiert.

Nach der Wende passierte in Deutschland etwas, was man in der Psychologie die Schaffung der sozialen Identität nennt. Das bedeutet: Mitglieder einer Gruppe schaffen sich eine gemeinsame Identität, indem sie sich von einer anderen Gruppe abgrenzen.

Erst indem man das Andere entwirft, schafft man auch das vermeintlich „Normale“.

Die Politikwissenschaftlerin Rebecca Pates hat sich mit diesem Phänomen beschäftigt. In ihrem Buch „Der Ossi“ beschreibt sie, wie „soziale Konflikte ethnisiert werden“ – also: Anstatt zu untersuchen woher die Konflikte konkret kommen, schreibt man sie einer ganzen Gruppe zu.

Sie schreibt: „Über Ostdeutsche als solche wird berichtet unabhängig davon, wo sie sich gerade befinden, während ein Wessi dies nur im Osten ist.“

Als „das Normale“ in Deutschland gilt bis heute alles Westdeutsche; dem gegenüber steht „das Andere“, das Ostdeutsche.

In den 90ern, schreibt Pates, habe man Ostdeutsche in den Medien als altmodisch, verklemmt, naiv, opportunistisch bezeichnet. Bis heute wird das Bild des rassistischen Ostdeutschen bedient. Umgekehrt seien Westdeutsche eben all das nicht.

Ostdeutsche werden kollektiviert, Westdeutsche individualisiert. Ostdeutsche sind negativ von der DDR geprägt, Westdeutsche haben nur sehr persönliche Probleme.

Wenn wir zum Beispiel über Rechtsextremismus in Ostdeutschland reden, dann geht es um das Demokratiedefizit einer ganzen Gruppe. Wenn wir über Rechtsextremismus in Westdeutschland reden, dann sind es nur ein paar Einzeltäter.

Aber wenn der Rechtsextremismus nur ein Nachklang der DDR ist, bedeutet das im Umkehrschluss: Westdeutschland hat kein Problem damit?

Die Krux ist: Obwohl diese Identitäten nur ausgedacht sind, werden sie irgendwann real. Es reicht nicht zu sagen: Die Unterschiede sind konstruiert, deshalb gibt es sie nicht.

Durch Zuschreibung findet nämlich oft eine Abwertung statt, mit ganz realen Folgen. Am Beispiel Ostdeutschland: Es gibt heute keine ostdeutschen Bundesrichter, keine ostdeutschen Hochschulrektoren, kaum ostdeutsche Abteilungsleiter in den ostdeutschen(!) Landesregierungen und in den überregionalen Medien arbeiten nur wenige ostdeutsche Journalisten.

Nachdem ich aus dem Film Gundermann kam, wurde mir bewusst, dass ich westdeutsch bin. Meine Herkunft gehört in diesem Land zum „Normalen“, ich muss mich nicht für die Fehler einer ganzen Gruppe rechtfertigen.

Letztens kommentierte auf Twitter ein Journalist aus Dresden mein Projekt. Er postete: Der Journalist Paul Hildebrandt macht unter dem Label „Ostwalz“ eine 7-wöchige Safari durch Ostdeutschland. Bin zwar kritisch, aber interessiert.“

Ich verstehe seine Kritik: Ein Westdeutscher, der nach Ostdeutschland reist, um sich das vermeintlich Andere anzuschauen, das ist nicht richtig.

Aber so einfach ist das nicht, ich mache keine „Safari“. Ich will nicht hingehen, ein paar Beobachtungen machen und wieder zurück kehren; ich will in den Austausch kommen.

Ich will besser verstehen, wie dieses Land eigentlich tickt.

Ich mache diese Wanderschaft mit wenig Geld und viel Zeit im Gepäck, und ich glaube: Das ist mein großer Vorteil. Ich muss nicht von einem Termin zum nächsten hetzen, ich kann mich hinsetzen und mit den Leuten reden. Ich kann ihnen zuhören, ich kann versuchen ihre Perspektive auf das Land nachzuvollziehen. Ich kann ihnen eine Plattform bieten.

Ja, ich reise als Westdeutscher durch Ostdeutschland. Aber das wichtige ist: Ich weiß das.

Der Journalist aus Dresden hat mich übrigens zum Bier eingeladen. Da schaue ich sicher mal vorbei.

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