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Was ist los am Datzeberg? – Neubrandenburg

Früher war es ein Vorzeigestadtteil, heute gilt das Viertel auf dem Datzeberg als Problemviertel Neubrandenburgs. Wie man an einem Ort lebt, an dem keiner mehr wohnen will

Dieser Text ist im Auftrag des Nordkuriers entstanden

Es ist Freitag der 19. Juni, als zwei junge Männer übereinander herfallen. Sie brüllen sich an, dann zückt einer der beiden ein Messer, kurz darauf fließt Blut. Passanten filmen die Tat, das Video wird von einem Handy zum nächsten geschickt. In den sozialen Netzwerken sind viele Menschen schockiert: Schon wieder eine Gewalttat, schon wieder der Datzeberg.

Nur wenige Monate vorher im April dieses Jahres wurde ein 23-jähriger Mann zusammen geschlagen, im Februar attackierte ein Kneipengast den Wirt mit einem Schraubenschlüssel und schoss mit einer Schreckschusswaffe, im Dezember des vergangenen Jahres prügelten sich drei Männer in einem Hauseingang, einer von ihnen versprühte Reizgas.

Immer wieder der Datzeberg. Was ist dort nur los?

Nur wenige Kilometer außerhalb der Neubrandenburger Innenstadt liegt ein großer Teil des Datzeviertels auf einem grünen Hügel wie eine Insel. Hochhäuser ragen über die Baumwipfel, schmalen Treppen führen den Hang hinauf. Keine Hauptstraße führt dorthin, kein Bus durchquert den Stadtteil. Niemand landet zufällig dort, der Datzeberg ist so etwas wie ein eigener kleiner Mikrokosmos innerhalb Neubrandenburgs, drittgrößte Stadt in Mecklenburg-Vorpommern.

An einem Montagnachmittag dreht Johannes Lokozc an den Knöpfen seines kleinen Radios und sagt: „Das Problem ist doch nicht die Platte.“ Lokozc hat kurze graue Haare, Karo-Hemd, er ist Vorsitzender der Schrebergartensiedlung Utkiek e.V.. Von dort aus blickt man vom Datzeberg weit ins Land. Lokozc sitzt zwischen Kirsch- und Pflaumenbäumen und sagt: „Also ich lebe gerne hier.“

Er war wegen eines Jobs aus Thüringen nach Neu-Brandenburg gekommen und 1978 auf den Datzeberg gezogen. Damals galt das Viertel als modern: Neue Wohnungen mit effektiven Heizungen, viel grün. Alle zehn Minuten fuhr ein Bus in die Stadt und im Stadtteil gab es ausreichend Ärzte, Kinderbetreuung und Einkaufsläden. Viele Menschen wollten damals auf den Datzeberg ziehen, Lokozc hatte Glück. Zwei Zimmer, toller Ausblick, gute Anbindung.

Doch dann kam die Wende und der Datzeberg wandelte sich.

Zuerst zogen die weg, die es sich leisten konnten und zurück blieb die Armut. Dann tauchten immer mehr Nazis auf, es wurde mehr Alkohol getrunken, die Gewalt nahm zu. Das sagt nicht nur Lokozc, das erzählen auch andere im Utkiek e.V.. Der Datzeberg bekam einen schlechten Ruf – und den hat er bis heute nicht wegbekommen. Lokocz sagt: „Wenn ich damals nicht meinen Job verloren hätte, ich wäre auch weg gezogen.“

Der Datzeberg könnte ein Idyll sein: Zwischen den Hochhäusern wachsen Wildblumen auf großen Wiesen, nur wenige Autos fahren durch die ruhigen Straßen. Vermutlich gibt es an keinem Ort in Neu-Brandenburg eine bessere Aussicht. 

Doch der Datzeberg gilt als arm und abgehängt: Nirgends sind die Mieten so günstig wie hier, fast jeder sechste Bewohner des Stadtteils ist ohne Arbeit, rund ein Drittel bezieht Sozialleistungen. Viele Menschen hier haben das Gefühl: Es fehlt die Perspektive.

Es ist eine Geschichte, die auch in Marzahn-Hellersdorf spielen könnte oder in der Dortmunder Nordstadt, an Orten, die scheinbar von ihren Kommunen vergessen wurden. Und es ist die Geschichte von den Menschen, die an diesem Ort leben, für die das Alltag bedeutet.

Am späten Nachmittag sitzen Christiane Barkow, 38, und ihr Mann Ronni in der Stadtteil-Kneipe Datze-Stern und diskutieren darüber, was sie gerne alles ändern würden. Christiane sagt: „Es muss hier mehr für die Kinder gemacht werden!“ Und Ronni: „Der Platz der Familie muss wieder für Familien da sein.“ Beide finden: „Es braucht mehr Orte, an denen man sich aufhalten will.“

Denn der Datze-Stern ist eigentlich der einzige Ort, an dem man sich aufhalten kann. Eine dunkle Kneipe, in der das Bier für zwei zwanzig verkauft wird. Qualm steht in der Luft, in der Ecke dudeln die Glücksspielautomaten. Sonst gibt es praktisch nichts auf dem Datzeberg: Keine Bücherei, keine Cafés, kein Restaurant. Nur den Platz der Familie: Eine große Wiese, über die der Wind Plastiktüten weht und auf der sich schon Nachmittags die Jugendlichen treffen, um zu trinken – und die Abgehängten im „Säufer-Pavillon“. So nennt ihn Christiane. 

Die Beiden sind sich einig: Es könnte sehr schön sein auf dem Datzeberg, wenn sich nur jemand kümmern würde.

Mehr als zehntausend Menschen wohnten in den Achtzigern auf dem Datzeberg, dann begann der Wegzug. Wohnungen standen leer, Häuser zerfielen. Im Herbst 2015 brachte die Stadt die ersten Flüchtlinge dort unter, bis 2016 stieg der Ausländeranteil auf zehn Prozent an.

Manche auf dem Datzeberg sagen: Die Ausländer seien Schuld an den Problemen. Überdurchschnittlich viele Menschen haben bei der Wahl zur Stadtvertretung die AfD gewählt, immer wieder kommt es zu fremdenfeindlichen Übergriffen.

„Ich habe keine Probleme mit meinen Nachbarn“, sagt Mohamad Saer Khubbie, dunkler Bart, schwarzes Hemd. Auch er floh vor vier Jahren aus Syrien nach Deutschland und landete auf dem Datzeberg. Heute führt er einen kleinen arabischen Lebensmittelladen und macht sich mehr Gedanken über die Miete als über Fremdenfeindlichkeit. Sein Geschäft liegt im Erdgeschoss des Datzecenters, einem Einkaufszentrum in der Mitte des Stadtteils. Es gibt dort einen Netto, eine Post-Filiale und einen Mittagstisch, die Schlemmerrunde, bei dem man Königsberger Klopse für fünf zwanzig bekommt.

Das Datzecenters könnte so etwas sein wie der lebendige Marktplatz des Datzebergs, ein Treffpunkt für jung und alt. Aber es geht ihm wie dem Rest des Stadtteils: Es stirbt aus. Viele Läden stehen leer, der Edeka ist weg, genau wie die Baguetterie, obwohl beides noch beworben wird – und auch der Syrer Khubbie sagt: „Ich kann diesen Laden nicht halten.“ Die Miete sei zu hoch und es gebe zu wenige Kunden. „Die Leute haben hier einfach nicht so viel Geld.“

Fragt man die Menschen auf dem Datzeberg, was ihnen fehlt, sprudeln die Antworten nur so hervor: Es fehlt an Geschäften, an Sportangebot und an einer besseren Busverbindung.

Im fünften Stock eines Neubaus steht Rita Kohn auf ihrem Balkon, 60 Jahre alt, fünfmal geschieden, immer weiter gemacht. Sie sagt: „Es fehlt uns eine Eisdiele. Und Hundeklos.“ Sie war Anfang der Achtziger Jahre auf den Datzeberg gezogen, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, Textilwäscherin. Wenn sie von früher erzählt, dann von der Gemeinschaft, die sie hier erlebt hat. Sie erzählt, wie man sich vor dem Haus traf und sich auf eine Bank setzte und quatschte. „Heute es gibt kaum Bänke vor den Häusern. Das sollte man auch ändern.“

Rita Kohn

Kohn hat die Messerstecherei im Juni beobachtet. Eigentlich wollte sie mit ihrer Freundin spazieren gehen, wie jeden Freitag, dann sah sie die Menschentraube. „Das waren zwei besoffene Typen, die da aufeinander losgegangen sind und alle haben zugeschaut. Jeder wollte was machen, keiner hat was gemacht. Das ist doch Mist.“ Sie sagt, sie wohne gerne hier: Schöne Wohnung, tolle Aussicht, Freunde um die Ecke. „Aber den jungen Leuten fehlt es einfach an Perspektiven.“

Dabei gibt es sogar zwei Jugendeinrichtungen auf dem Datzeberg: Den Toni-Club von der AWO und das Caribuni, von der Caritas geführt. Beide liegen im selben Block, nur etwa dreißig Meter voneinander entfernt, beide sollen die Kinder und Jugendlichen auffangen. Im Toni-Club will man nicht mit der Presse sprechen, im Caribuni stehen Tobias Rave und Sebastian Zaddach mit Küchenschürzen zwischen einer Traube von Kindern und backen Eiswaffeln. Das ist ihr Kampf gegen die Perspektivlosigkeit.

Rave, 33, und Zaddach, 39, sind Zugezogene, sie haben sich bewusst für den Datzeberg entschieden. „In den Kindern hier steckt so viel Potential, man muss ihnen nur die Chance geben, das rauszuholen.“ Die beiden Sozialarbeiter laden Kinder und ihre Eltern ein, versuchen Aktivitäten anzustoßen. Ihr größter Erfolg ist der Chor „Schallplatte“.

Sebastian Zaddach (l.) und Tobias Rave (r.)

Im Internet kann man Videos davon anschauen: Etwa dreißig Menschen, die über den Datzeberg laufen, die singen und tanzen. Die dem Beton die Härte nehmen. Das Video zum Lied-Cover von „Wir machen das klar“ bekam mehr als zehntausend Klicks.

Für Rave und Zaddach ist das auch Teil ihrer Arbeit: Sie wollen dem Datzeberg seinen schlechten Ruf nehmen.

Natürlich ist das keine Lösung für die Probleme, das hilft nicht gegen die Gewalt und gegen die Armut, aber es ist eine Möglichkeit zu zeigen: Viele Menschen wohnen auf dem Datzeberg, und viele von ihnen wohnen auch gerne dort. 

Am Abend füllen sich wieder die Tische im Datze-Stern. Daniel trinkt sein Feierabendbier, Veronika bestellt sich einen Pfeffi. Hinter der Theke steht Erdim, Kurde aus der Türkei. Alle von ihnen kennen den Messerstecher vom 19. Juni persönlich. Daniel sagt: „Der ist eigentlich ein lieber Junge, aber wenn der getrunken hat, dann baut er immer Scheiße.“ Auch heute Abend wird dort zu viel getrunken und zu viel Geld in die Glücksspielautomaten gesteckt. Aber es bleibt friedlich und irgendwann liegen sich die Kneipengäste in den Armen und sagen: Wir sind Familie.


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