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Warum die Neuhäuser keine Brücke bekommen – Amt Neuhaus

Und was ihre Geschichte über ein geteiltes Land erzählt

Für Marian Klärner ist die Brücke so etwas wie eine Naturgewalt: Wenn sie kommt, dann kommt sie. „Da kann man doch nicht den Kopf in den Sand stecken. Da muss man positiv bleiben und die ganze Sache erstmal auf sich zukommen lassen“, sagt er und reißt ein Ticket ab. Unter seinen Füßen bollert der Motor, der Wind reißt am blauen Hemd. Klärner, 56 Jahre alt, kurze blonde Haare, steht an der Reling des Fährschiffs „Tanja“ und schaut gelassen auf die glitzernde Elbe. 

Die Tanja

Er ist der Fährmann der Tanja, seit fast 30 Jahren schon. Morgens um fünf fährt er die erste Runde, von Neu-Darchau nach Darchau in Ostniedersachsen. Zehn Minuten hin, zehn Minuten zurück. 300 Meter Fluss, die er „wirklich gern hat“, die sein Leben bedeuten. Nur: Wenn die Brücke kommt, dann ist es damit vorbei, dann war es das mit der Fähre und Klärner kann sich einen neuen Job suchen.

Klärner wäre das erste Opfer einer Brücke, die für die einen eine große Gefahr bedeutet und für die anderen Teil eines gebrochenen Versprechens ist. Ein Versprechen, das vor fast 30 Jahren gegeben wurde, als die Mauer fiel und aus Ost und West wieder ein Land wurde. Ein Versprechen, das lautete: Ihr gehört dazu.

Die Brücke hätte die Leute von beiden Seiten der Elbe verbinden sollen. Doch statt dessen tut sie genau das Gegenteil. Sie zieht einen neuen Riss durch die Gesellschaft und trennt die Menschen im Elbtal bei Lüneburg in Brückengegner und Brückenfreunde, in „Alte“ und „Neue“ und erneut in „Ost“ und „West“.

Auf der westlichen Seite der Elbe liegt der kleine Ort Neu-Darchau, auf der Ostseite die Gemeinde Amt Neuhaus, 420 Quadratkilometer, rund 4700 Einwohner, 42 Dörfer. Amt Neuhaus ist eine deutsch-deutsche Besonderheit: Drei Jahre nach der Wiedervereinigung verließ die Gemeinde Mecklenburg-Vorpommern und schloss sich dem Landkreis Lüneburg an. Aus Ostdeutschland wurde Westdeutschland, zumindest auf dem Papier. 

In Wahrheit blieb Amt Neuhaus ein Stück Ostdeutschland, denn noch immer sind die Löhne schlechter, die Rente niedrige und noch immer gibt es keinen direkten Weg über die Elbe. Wer auf die andere Seite möchte, der muss die Fähre nehmen. Kostet vier Euro fünfzig für Auto und Mensch, verkehrt nur bis 21 Uhr und wenn Niedrigwasser ist, dann fährt sie gar nicht, dann müssen die Neuhäuser außen herum fahren, vierzig Kilometer Umweg für Pendler und Schüler die drüben die Oberstufe besuchen.

Krachend legt die Fähre am Anleger an. Eine Metallbrücke senkt sich, zuerst fahren die Autos mit Lüneburger Kennzeichen, dann kommen die Fahrradtouristen in Funktionskleidung. Klärner winkt ihnen hinterher. Vom Fähranleger aus schlängelt sich eine schmale Landstraße durch die Felder, sieben Kilometer bis nach Amt Neuhaus. Links und rechts säumen Obstbäume die Straße, an den Bauernhäusern wehen Niedersachsenfahnen.

„Ich bin als Zwangsmecklenburger erzogen worden. Meine Familie hat sich immer Lüneburg zugehörig gefühlt“, sagt Marko Puls, 45 Jahre alt, Polizist und Vorsitzender des Fördervereins „Brücken bauen e.V.“. Der Verein hat nach eigenen Angaben 280 Mitglieder, veranstaltet Demos und Protestaktionen und will eigentlich nur eine Brücke bauen: Die nach Neu-Darchau. Für Puls hat es mit mangelnder Wertschätzung zu tun, dass Amt Neuhaus nie durch eine Brücke angebunden wurde. Er sagt: „Nach der Wende wurde uns die Brücke versprochen, deshalb sind die Leute hier geblieben. Wir fühlen uns verarscht.“

Marko Puls

Vor dem zweiten Weltkrieg war Amt Neuhaus noch ein Teil von Lüneburg gewesen. Dann endete der Krieg und die Engländer übergaben das schmale Stück Elbtal an Russland. Die Elbe nutzte man als natürliche Grenze, Amt Neuhaus wurde Teil der neu gegründeten DDR. Viele Neuhäuser fühlten sich wie im Exil. Als die Wende kam, beschloss der neu gewählte Gemeinderat: Zurück nach Niedersachsen. Damals wurde auch der Brückenbau offiziell festgehalten. Im Staatsvertrag stand: „Zur besseren verkehrstechnischen Anbindung des Amtes Neuhaus an das Bundesland Niedersachsen ist der Bau einer Elbbrücke […] unerlässlich.“

62 Millionen D-Mark sollte die Brücke damals kosten, eine gewaltige Summe für die Anbindung einer Gemeinde von damals nicht einmal 6000 Menschen. Nur drei Monate nach der Wiederaufnahme Neuhaus‘ erklärte der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder: Für Neuhaus gibt es keine Sonderprogramme. Der Brückenbau wurde wieder abgesagt. Eine rationale Entscheidung gegen eine teure Brücke, die nur wenigen Menschen zugute kommen würde. Aber eben auch die Entscheidung gegen ein Symbol.

Seitdem geht es hin und her: Brückenbaupläne wurden veröffentlicht – und wieder verworfen; Gelder wurden versprochen – und an anderen Orten dringender benötigt. Die Baupreise stiegen in die Höhe, Umweltschützer traten auf den Plan. Viele Neuhäuser verließen die Gemeinde und die Region wurde zum Biosphärenreservat ernannt, zu einer Art grünen Lunge Niedersachsens.

Für Marko Puls ist das Teil des Problems. Er sagt: „Wir dürfen hier keine Industrie ansiedeln und in Lüneburg wird ständig gebaut. Wir sind das grüne Gewissen der Lüneburger.“ Er sagt, es fehle an Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten. Niemand wolle nach Neuhaus ziehen, weil die Anbindung an den Westen fehle. Die Brückengegner, glaubt er, seien „Zugezogene, Atomkraftgegner, denen das Projekt weggefallen ist und so genannte Umweltschützer“.

Er glaubt, kein vernünftiger Mensch könne gegen die Brücke sein.

Nur wenige Kilometer von Marko Puls entfernt, auf der anderen Elbseite, wohnt Andreas Conradt, 56 Jahre alt, weitergegerbtes Gesicht. Für ihn liegt die Brücke wie ein dunkler Schatten über der Zukunft. Er sagt: „Wenn die Brücke käme, würde sich hier vieles zum Negativen verändern.“ Conradt lebt seit zwölf Jahren in Neu-Darchau, sein Haus liegt nur wenige Minuten Fußweg vom Elbufer entfernt. Vor einem halben Jahr hat er gemeinsam mit einem Freund das Gasthaus „Göpelhaus“ übernommen, ein altes Bauernhaus direkt am Fähranleger. Beim Pachten des Hauses hatte er sich eine Sonderklausel in den Vertrag schreiben lassen: Wird die Elbbrücke gebaut, darf er den Vertrag sofort wieder auflösen.

Wenn Conradt von der Brücke spricht, dann schwingt Sorge in seiner Stimme mit. Er ist damals in einer Lebenskrise aus Hamburg weggezogen und hat im Elbtal eine neue Heimat gefunden. Er will nicht, dass sich dort etwas verändert. Er mag die Gegend, weil sie so abgeschnitten ist. Kommt die Brücke, dann kommt auch der Durchgangsverkehr, dann bleiben die Restaurant-Gäste aus und dann verliert der kleine Ort seine gemütliche Ruhe. Conradt sagt: „Auch der Mensch gehört zur Natur und er muss geschützt werden. Es geht hier um das Schutzgut Mensch.“

Auch Conradt hat eine Initiative, auch er veranstaltet Demos und Mahnwachen. Etwa dreißig Menschen gehören zum aktiven Kern. Ihr Zeichen ist die grüne Hand, darunter steht: Nein zur Brücke.

Auf Conradts Auto klebt ein Sticker mit der Aufschrift: „Rebublik freies Wendland“, eine Erfindung der Atomkraftgegner bei Gorleben. Seit einigen Jahren macht der Ort Neu-Darchau bei der kulturellen Landpartie mit, auch das ein Erbe der Anti-AKW-Bewegung. 

Der Polizist Marko Puls nennt die Veranstaltung „kulturelle Landplage“. Er sagt: „Wenn die Alternativen kommen, dann fliehen wir.“ Für ihn sind das alles Westberliner, die sich im Elbtal zur Ruhe setzen und nicht mehr arbeiten müssen. 

Marko Puls und Andreas Conradt wohnen nicht nur an unterschiedlichen Ufern der Elbe, sie haben auch grundsätzlich andere Vorstellungen davon, wie die Zukunft des Elbtals aussehen soll. 

Conradt glaubt, die Angst vor dem Brückenbau lähme die Gegend. Er sagt: „Man könnte etwas Tolles aus diesen Orten machen, aber die Leute haben Angst vor der Brücke und dem Verkehr.“ 

Puls hingegen meint: Es kommen keine neuen Leute, weil der Ort abgeschnitten ist.

Conradt stammt aus dem Westen, Puls aus dem Osten. Conradt aus der Stadt, Puls vom Land.

Die Brücke, die eigentlich verbinden sollte, sie lässt die Menschen immer verständnisloser für die andere Seite werden.

2006 wäre die Brücke zuletzt fast gebaut worden. Die Planung war bereit, die Finanzierung sah auch gut aus. Dann kippte eine Klage das Vorhaben, denn Neu-Darchau gehört zum Kreis Lüchow-Dannenberg, Lüneburg ist nicht zuständig gewesen. Ein Planungsfehler, der ein wenig auch für das Interesse der niedersächsischen Politik am Brückenbau steht.

Hört man sich in Amt Neuhaus um, dann sagen viele: Wären wir mal in Mecklenburg geblieben, die Anbindung an den Westen hat uns nur Ärger gebracht. Sie sind frustriert. Längst geht es nicht mehr nur um eine Brücke, es geht auch darum, gehört zu werden.

Es ist bereits Mittags und die Sonne steht hoch am Himmel, ein starker Wind bläst Wolkenberge über den Horizont. In der Ferne steigen Rauchschwaden auf, ein gewaltiger Waldbrand hält die Region in Atem. Der Fährmann Marian Klärner packt seine Sachen zusammen, um die Schicht zu beenden. Er sagt, er habe Angst keinen Job mehr zu finden, wenn sie die Fähre einstellen. „Wer nimmt denn dann noch so einen Alten?“

Klärner ist lange zur See gefahren, fürs Fischkombinat Rostock. Dann kam die Wende und mit dem Kombinat „ging‘s den Bach runter“. Seitdem ist er Fährmann, im Sommer wie im Winter. Er sagt: „Die Elbe ist eine Grenze in den Köpfen, immer noch. Bis das endgültig vorbei ist, wird‘s wohl noch ein bisschen dauern.“

Er meint: Direkt nach der Wende, da hätte man die Brücke bauen müssen. Heute ist es zu spät.

Chance verpasst.

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