
Der Text erschien erstmals in der Freien Presse
Wenn Klaus Hertel von früher erzählt, dann schwingt Stolz in seiner Stimme mit. Er erzählt von Schächten, die Hunderte Meter tief in den Berg reichen, von Maschinen, deren ohrenbetäubendes Rattern die Gänge füllte, und von Männern, die splitternackt und schweißüberströmt die Kohle schaufelten. Er erzählt von einer Welt, die durchzogen war von schwarzem Staub und in der das Wort „Angst“ nicht existieren durfte, denn mit Angst im Bauch wäre man nicht mehr hinunter gefahren. „Wenn du unter Tage bist, da ist einer auf den anderen angewiesen. Da werden Kollektive geschmiedet“, sagt er. Wenn der 83 Jahre alte Hertel von früher erzählt, dann meint er den Bergbau in Zwickau, dann meint er das Martin-Hoop-Werk und die Steinkohle.
Vor ein paar Tagen hat die Unesco die Bergbauregion im Erzgebirge und in Tschechien als Weltkulturerbe anerkannt. Ganz Sachsen fieberte mit, es war ein großes Ereignis. Doch Hertels Vergangenheit wurde damit nicht gewürdigt. Denn Zwickau taucht unter den Bergbaustätten nicht auf, die zum Welterbe zählen.
Bereits im September 2011 hatte Zwickaus Oberbürgermeisterin Pia Findeiß erklärt: Die Stadt beteiligt sich nicht am Weltkulturerbe-Antrag. Wenige Monate später trat der Landkreis Zwickau gar aus dem Tourismusverband Erzgebirge aus. Zwar schlug der Zwickauer Stadtrat der Bewerbungskommission noch einige Objekte vor, doch im Juli 2012 sagte der Projektleiter Helmuth Albrecht im Radio: „Da Zwickau deutlich gemacht hat, dass es sich selbst nicht zum Erzgebirge zählt, kann es wohl auch schlecht in der Montanregion Erzgebirge vertreten sein.“ Das Interesse der Stadt sei „gleich null“ gewesen, ergänzt Albrecht heute am Telefon. Damit war besiegelt: Die Welt würde nicht auf Zwickau schauen.
Was macht das mit Kumpels wie Klaus Hertel? An einem Freitagmorgen steht er im ersten Stock seines kleinen Hauses in Zwickau-Auerbach und streicht mit dem Zeigefinger über Bilder, die sein Leben zeigen. Die Zimmerwände seines Hauses sind behängt mit alten Urkunden, Zieräxten und Fotos. Darauf zu sehen ist ein junger Hertel mit Grubenhelm, ein älterer Hertel beim Vermessen der Gruben und der Rentner Hertel in der Parade-Uniform. Er sagt: „Wir haben schon Weltkulturerbe praktiziert, da gab es das noch gar nicht. Ein Berufszweig, der über 600 Jahre das Leben und die Kultur der Region geprägt hat, kann doch nicht einfach vorbei sein.“
Schon Klaus Hertels Großvater hatte als Bergmann geschuftet – und der Vater seines Großvaters auch. Hertel stammt aus einer Zwickauer Bergarbeiterfamilie. Seit dem Mittelalter graben die Menschen in der Gegend um Zwickau Steinkohle aus dem Fels, erst in kleinen Höhlen, dann immer tiefer in den Fels hinein. 50 Kilometer Schächte durchzogen Ende der 1970er-Jahre den Boden um die Stadt, der letzte Schacht reichte 1100 Meter tief unter die Erde. Dort fuhr Hertel hinunter, fast jeden Tag, seitdem er 14 war. Erst als einfacher Arbeiter, später als Vermessungsingenieur. „Am Anfang hatte man noch Herzflattern, dann wurde es irgendwann normal.“ Die Hitze unter Tage, die ständige Gefahr, der Kohlestaub in der Luft. In Hertels Leben hat es nie etwas anderes gegeben. Er sagt: „Ein Häkchen krümmt sich beizeiten.“ Doch irgendwann war die Erde leer gegraben und der Staat beschloss: Stellt die Förderung ein. Hertel und die Kumpels erhielten neue Jobs. Aber ein Beruf ist eben nicht nur ein Beruf. Als Hertel am 12. Mai 1980 ein letztes Mal hinunter in den Schacht fahren durfte, da wurde es ihm eng um die Brust, „als wenn man jemanden beerdigt.“ Er sang ein letztes „Glück auf“, dann war’s das. Und Klaus Hertel vermaß die Welt fortan nur noch übertage.
Rund 20 Jahre vorher, im Jahr 1960, hatte die Unesco zum ersten Mal eine historische Stätte zum Weltkulturerbe erklärt. Das Credo: Zerstört man die Kultur, zerstört man auch die Identität der Menschen. Das Welterbe der Unesco wurde zu einer Art kulturellem Gedächtnis der Menschheit, eine Schatztruhe der Geschichte. Jeder Mitgliedsstaat darf pro Jahr zwei Vorschläge einreichen. Die Stätten sollen eine besondere kulturelle Leistung der Menschheit darstellen, einen universellen Gewinn für die Welt. Der Bergbau in der Montanregion Erzgebirge/Krušnohorí, das befand die Unesco in diesem Jahr, sei ein Ausdruck menschlicher Kreativität. Es ist eine besondere Würdigung, denn sie gilt dem Kollektiv: jedem einzelnen Bergarbeiter, der ein Stück Stein abgetragen hat. Nur für Klaus Hertel gilt sie nicht.

Zwickaus Oberbürgermeisterin Pia Findeiß ist noch heute im Amt. Sie war damals gegen eine Bewerbung. Warum? Auf Anfrage schreibt sie: „Zwickau ist ein moderner Industrie- und Wirtschaftsstandort. Der eigentliche Bergbau gehört der Vergangenheit an.“ Zwickau, soll das heißen, hat heute andere Probleme.
Erhält ein Ort den Titel, dann kommen die Touristen. Das zeigen andere Welterbestätten in Deutschland. Das Welterbe ist für den Tourismus so etwas wie ein Magnet. In der Stadt Zwickau spielen Individualtouristen bisher eher eine untergeordnete Rolle – das sagen Hotelbesitzer. Kommen Ausflügler nach Zwickau, dann bleiben sie nur rund anderthalb Tage, eine vernachlässigbare Größe. Zwickau ist kein Top-Touristenziel. Das Erzgebirge hingegen könnte nun eins werden. Doch der Unesco-Titel hat auch einen Haken. Denn wer sich darauf einlässt, der geht einen Pakt ein: Ernennt die Organisation der Vereinten Nationen Orte zu Welterbestätten, dürfen die sich möglichst nicht mehr verändern. Der Stillstand soll die Erinnerung bewahren.
Das weiß auch Pia Findeiß: Zwickau sei geprägt von Hinterlassenschaften wie Hebungen und Senkungen, Grundwasserproblemen, Brachen und ähnlichem. „Hier kann das Ziel eben nicht das Bewahren sein.“ Der Bergbau in Zwickau hatte ein Netz von Schächten durch die Erde gezogen. Als man die Förderung Ende der 70er-Jahre einstellte, wurden sie mit Schutt gefüllt. Das allerdings führte Jahre später dazu, dass sich Grundwasser in den ehemaligen Gruben sammelte. Der Boden begann sich zu senken. Die finanziellen Auswirkungen seien nicht zu beziffern gewesen, schreibt Findeiß, die Aufnahme als Weltkulturerbe hätte der Entwicklung der Stadt sogar entgegenstehen können.
Gemeinsam mit seinen Ex-Kollegen gründete Hertel Ender der 80er Jahreden Steinkohlenbergbauverein Zwickau, er soll das Vergessen stoppen. Sie hängten Gedenktafeln in der Stadt auf und zogen in ihren Trachten durch die Straßen. Mit aller Kraft versuchen sie, die Menschen an die Grube und die Kohlen und den Schweiß zu erinnern, die Zwickau zu dem gemacht haben, was es heute ist. Und für einige Jahre schien das auch zu klappen. Hertel bekam Urkunden und schüttelte vielen Politikern die Hand. Auf Fotos sieht man ihn stolz seine Uniform tragen. Wenn Hertel Geburtstag hatte, dann gratulierte die Stadtspitze persönlich. Nur, wie lange können einzelne Menschen eine kollektive Erinnerung aufrecht erhalten?
Heute ist Hertel 83 Jahre alt, und ihm schmerzen die Knochen. Er sagt: „Wir haben viel getan, aber wir sterben nun einmal aus.“ Er sagt das nicht verbittert oder traurig, Klaus Hertel weiß: Seine Zeit geht vorbei. „Da bin ich Realist.“ Und er sagt: „Jetzt mal ehrlich: Was sollen wir den Leuten denn zeigen, wir haben doch alles abgerissen. Es ist weg. Geschichte.“ Dass der Bergbau mal zu Zwickau gehörte, das lässt sich im Stadtbild kaum noch erahnen.
Die Stadt ist vielleicht etwas zu wenig Erzgebirge, um wirklich dazu zu gehören. Sie ist vielleicht etwas zu wenig Touristenziel, um wirklich von dem Titel zu profitieren. Und vielleicht hat sie auch etwas zu wenig vom Stolz eines Klaus Hertels auf die Kohle und den Schweiß und den Staub, um den Titel wirklich zu verdienen.