Im Sommer 2019 fühlt es sich an, als gehe ein Riss durch die Gesellschaft. Aber stimmt das überhaupt?
Auf Oskars Seite erfüllen Staubwolken die Luft. Es riecht nach Abgasen und Motoröl. Das hier ist sein Terrain: Das größte Simson-Festival Deutschlands, 7000 Menschen, viele von ihnen noch keine zwanzig Jahre alt. Oskar hockt breitbeinig auf seiner Simson und gibt Gas im Leerlauf. Ein König der Welt: Der nackte Oberkörper eines Halbstarken lässig nach vorne gelehnt, Bierdose in der Hosentasche, seine Anglermütze trägt er wie eine Krone auf dem Kopf. Darauf steht: „Ostdeutschland“. Oskar brüllt: „Die Simson ist ein Kulturgut, ein ostdeutsches Kulturgut.“ Vor vielen Zelten stecken Schilder im Boden auf denen steht: „Mädchen, zeig mit deine Titten“, an manchen hängen AfD-Plakate. Durch große Boxen knallen Nazilieder und Saufmusik. Die Titel: „Zehn kleine N***“ und „Wir saufen uns durch die Welt.“ Oskar gibt Gas und brettert durch die Menschenmenge.
Szenenwechsel, nur wenige Kilometer entfernt: der Marktplatz in Zwickau. Auch auf Milenas Seite dröhnt ein Bass. Auf einer großen Bühne singt ein Rapper aus Berlin über Rassismus und Gerechtigkeit, zwei Frauen mit Kopftuch wippen zur Musik. Die Veranstaltung nennt sich: „Wann wenn nicht jetzt“. Ein Festival gegen den Rechtsruck. An einem der Stände klärt die „Geschichtswerkstatt Zwickau“ über die NSU-Morde auf. Milena engagiert sich dort seit über einem Jahr, weil sie findet: „Die Rechten sind total bescheuert.“ Sie sagt: „Bei mir in der Klasse wissen alle, dass ich in der Geschichtswerkstatt bin. Deshalb werde ich angefeindet.“ Aber heute ist sie in Sicherheit. Das ist ihre Veranstaltung: Ein politisches Festival, das Ostdeutschland vor dem Rechtsruck retten will.
Zwei Momente in Deutschland, nur wenige Kilometer voneinander entfernt und doch: Es fühlt sich an, als trenne ein unsichtbarer Graben das Simson-Festival vom Marktplatz.
Wenn man ihn sucht, den Riss in der Gesellschaft, dann wird man ihn an diesem Tag an vielen Orten in Deutschland finden. Immer wieder wird es heißen: Auf der einen Seite, auf der anderen Seite. Immer wieder: Unverständnis, immer wieder: Sprachlosigkeit.
Es ist die große Erzählung der letzten Jahre: Die Gesellschaft spalte sich immer stärker auf, heißt es, ein Riss tue sich auf, zwischen links und rechts, oben und unten, Ost und West. Ein Riss, der die Gesellschaft bedroht.
Journalist*innen mögen diese Geschichte, denn sie hilft beim Erzählen. Es gibt einen klaren Konflikt und darin zwei Seiten: schwarz und weiß und manchmal sogar ‚gut‘ und ‚böse‘. Und auch die Politik bedient sich der Erzählung. Jens Spahn tut es, wenn er von den vermeintlichen „Blasen“ in Berlin spricht, in denen „normale“ Menschen keinen Platz mehr finden würden. Sigmar Gabriel tut es, wenn er sagt, die SPD würde sich nur noch um Minderheiten aber nicht mehr um den einfachen Arbeiter kümmern und die AfD natürlich, sie liebt diese Erzählung. Sie lebt davon.
Es eine Erzählung, die sehr mächtig ist, weil sie die Welt einfach macht.
Aber stimmt sie überhaupt?
Ein weiterer heißer Sommertag, rund 70 Kilometer von Zwickau entfernt. In Pödelwitz, einem kleinen Dorf bei Leipzig haben Aktivist*innen ihre Zelte aufgeschlagen. Große Banner spannen über die Zäune, darauf steht: „Pödelwitz bleibt“ und „Climate Justice“.
Das Dorf Pödelwitz liegt mitten in einem Braunkohlegebiet bei Leipzig. Gewaltige Krater durchziehen die Landschaft. Einige Dörfer mussten bereits dem Tagebau weichen, das Dorf Pödelwitz ist als nächstes dran. Deshalb sind die Aktivist*innen dort. Sie wollen das Dorf beschützen – und sie wollen den Kohlebau stoppen.
Am Abend schallt lauter Techno über das Gelände, im Partyzelt feiern die Aktivist*innen. Nur wenige Meter davon entfernt stehen zwei Wachfrauen einsam am Eingangstor der Bergbaufirma.
Und wieder einmal gibt es zwei Seiten: Klimaaktivist*innen und Bergarbeiter*innen. Die einen wollen das Klima retten, die anderen haben Angst, arbeitslos zu werden. Die einen kochen veganes Essen, gendern ihre Sprache und haben genug Zeit, um am Vormittag über die Weltrettung zu diskutieren. Die anderen tragen Polo-Hemden, fahren einen geputzten VW-Kombi und arbeiten vierzig Stunden in der Woche, um sich ein Haus bauen zu können.
Man könnte meinen, zwei unversöhnliche Positionen stehen sich hier gegenüber.
Doch dann passiert etwas zwischen ihnen: Am frühen Vormittag kommen eine Handvoll Männer und Frauen vom Gelände des Bergbauunternehmens und bauen ein großes rotes Zelt am Rande des Klimacamps auf. Sie klappen einen Holztisch aus und zwei Bänke. Dann warten sie.
Kurz darauf nähert sich ein junger Mann dem Zelt, er nennt sich Jojo, Klimaaktivist aus dem Rheinland, spricht hochdeutsch. Lange Haare, zerrissenes T-Shirt, barfuß.
Ihm gegenüber sitzt nun Matthias Lindich, Betriebsratsmitglied: Jeans, Hemd, starkes sächsisch.
Dann legt Lindich los: „Wenn ein unkontrollierter Strukturwandel kommt, dann gehen wieder zehntausend Jobs verloren, das bedeutet Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung. Das will ich nicht noch einmal erleben.“
Und Jojo: „Wenn wir noch länger warten, dann ist es endgültig zu spät für diese Welt. Wir brauchen Lösungen, jetzt.“
Auf den ersten Blick wirkt das rote Zelt wie ein Grenzposten zwischen Klimacamp und Bergbaufirma. Dabei soll es genau das Gegenteil bewirken: Nicht trennen, sondern zusammen führen. Es ist eine Idee der Gewerkschaft gewesen. Als im Hambacher Forst der Konflikt zwischen Aktivist*innen und Bergarbeiter*innen eskalierte, beschlossen die Leipziger: Das muss doch auch anders gehen. Deshalb laden sie zum bei Kaffee und Kuchen Gespräch ein. Ein rotes Zelt gegen den unsichtbaren Graben.
Und anstatt sich niederzubrüllen, beginnen die beiden miteinander zu reden, höflich, sachlich. Ein Argument hier, ein Argument dort.
Eine Stunde später werden sich Jojo und Lindich mit einem Handschlag verabschieden. Beide werden unabhängig voneinander sagen: Das war ein spannendes Gespräch. Lindich sagt: „Ich finde es schon beeindruckend, was die jungen Menschen machen.“ Jojo sagt: „Man muss die Arbeiter aus der Region viel stärker in den Strukturwandel einbinden.“ Keiner der beiden wird über den anderen sagen: „Was für ein Idiot.“
Das Gefährliche an der Erzählung vom Riss in der Gesellschaft ist, dass sie zu einer Wahrheit wird. Sie könnte das sein, was man im Englischen eine self fulfilling prophecy nennt: Eine sich selbst erfüllende Vorhersage.
Fast zwei Monate lang bin ich im Juli und August durch Ostdeutschland gereist, immer per Anhalter oder zu Fuß. Ich habe mit hunderten Menschen gesprochen, mit Armen und Reichen, mit Linken und Rechten, mit Akademikern und Handwerkern. Und immer wieder habe ich die Frage gestellt: Was bewegt dich?
Oft habe ich Antworten erhalten, die mich irritierten. Da ist zum Beispiel René, irgendwo auf dem sächsischen Land. Er arbeitet als Bauleiter. Auf meine Frage hin, was ihn bewegt, fing er an von Syrien zu reden, vom Islamismus, von der USA, die die Welt beherrsche, von gut und böse. Er hatte viel zu sagen und immer ging es um „die“ und „wir“. Nichts davon hatte etwas mit seinem Leben auf dem Dorf zu tun, keinen seiner Gegner würde er jemals treffen. Irgendwann stellte ich die Frage einfach noch einmal – und plötzlich kamen andere Antworten. Er erzählte nun vom Fachkräftemangel und dass es deshalb schwierig sei, Aufträge anzunehmen. Der Fachkräftemangel, kann man sagen, ist sein wirklicher Gegner.
Ich habe viele solcher Gespräche geführt. Oft verliefen sie ähnlich: Erst ging es um gut und böse und anschließend um die Oma, die gepflegt werden muss, um die Ärztin, die auf dem Dorf fehlt, um die Trockenheit, die den Leuten zusetzt.
Denn in Wahrheit verbinden viele Probleme die Gesellschaft eher, als das sie die Menschen voneinander trennen. Gastarbeiter*innen und ostdeutsche Arbeiter*innen haben beide mit niedrigen Renten zu kämpfen, Hipster in Berlin und Selbstständige auf dem Dorf leiden unter prekären Arbeitsbedingungen und der Klimawandel macht nicht nur den Aktivist*innen, sondern auch den Bergarbeitern zu schaffen. Nur geht es vielen von ihnen so wie uns Journalisten: Die Erzählung von schwarz und weiß ist einfacher. Es ist leichter, sich an Unterschieden festzuhalten, als Gemeinsamkeiten zu finden.
Natürlich trennen Milena von der Geschichtswerkstatt und den Simson-Fahrer Oskar viele Ansichten, und natürlich haben die Bergarbeiter*innen und die Klimaaktivist*innen unterschiedliche Interessen. Wer auf dem Dorf aufgewachsen ist, weiß: Punks und Popper können sich nicht ausstehen. Aber das ist eben nur die Oberfläche. Manchmal spielen sie sogar im selben Verein Fußball. Und in Pödelwitz merken im Schatten des roten Zeltes beide Seiten: Wir können sogar gemeinsam Forderungen formulieren.
Indem wir immer wieder die Gräben beschreiben, werden aus Unterschieden plötzlich tiefe Risse in der Gesellschaft.
Eine dritte Begegnung: Eine Leipziger WG-Küche, zwei linke Aktivist*innen: Jette und Stefan. Sie aus Kassel, er stammt aus Ost-Berlin. Beide engagieren sich bei der Gruppe „Aufbruch Ost“. Sie fordern eine kritische Aufarbeitung der Nachwendezeit. Ihr Thema: Die Treuhand. Seit Wochen tingeln sie über ostdeutsche Marktplätze, um mit Menschen darüber zu sprechen. Jette sagt: „Das Treuhand-Thema kann als eine Art Türöffner für andere Gespräche dienen.“ Für Gespräche über Rassismus zum Beispiel, über soziale Ungerechtigkeit, über Ausgrenzung.
Die Idee: Indem sie die Menschen bei Themen abholen, die sie bewegen, können sie gemeinsam weiterdenken. Anstatt die Menschen mit Frust und Wut alleine zu lassen, stellen die Aktivist*innen sich an ihre Seite.
Die Gruppe „Aufbruch Ost“ ist so etwas wie die Gegenthese zur Erzählung von der gespaltenen Gesellschaft. Die Aktivist*innen sind junge Linke aus der Leipziger Blase. Sie tragen Szene-Klamotten, essen vegetarisch, benutzen das Gender-Sternchen und sprechen über gesellschaftlichen Rassismus. Einige von ihnen kommen aus Westdeutschland.
Aber sie nehmen die Menschen auf den Marktplätzen ernst. Sie hören zu, sie halten dagegen, wenn es sein muss – und sie versuchen ins Gespräch zu kommen, auf Augenhöhe. Die vermeintlichen Unterschiede spielen dann erst einmal keine Rolle mehr.
Als die 16 Jahre alten Milena in Zwickau über die Rechten in ihrer Klasse spricht, sagt sie: „Einige meiner Freunde sind rechts. Was soll ich denn machen, das sind doch trotzdem meine Freunde?“
Und dann sagt sie: „Das einzige, was man vielleicht machen könnte, ist mit denen zu reden.“