Wie eine Straßenzeitung ihren Redakteur vor der Vergangenheit rettete
Es ist Freitagmorgen, Frank Schlößer sitzt in seinem Büro und wartet auf die Menschen, die nun von seinen Artikeln leben: Der massige Falko, der von seinem alkoholkranken Vater auf die Straße geworfen wurde; Daniel und Sabrina, die erst Mitte zwanzig sind, aber schon fünf Kinder haben, Irina, die die Zeitungen zwischen Bierflaschen steckt. Es sind Straßenzeitungsverkäufer und Schlößer ist der einzige Redakteur des Rostocker Straßenmagazins: „Strohhalm“. Er gehört jetzt zu den Guten, zu jenen die anderen Menschen helfen. Das war nicht immer so. Und das ist vielleicht auch der Grund, warum Schlößer nun dort sitzt und Hefte sortiert.
Vor dem Fenster prasselt der Regen auf die Straße, drinnen hat Schlößer den Verkäufer*innen die Zeitschriften sorgfältig aufgestapelt, nach und nach nehmen sich ein Paket und ziehen los. Sechzig Cent bezahlen sie pro Ausgabe im Voraus, wenn sie keine Hefte verkaufen, ist das Geld futsch.
Es ist ein großen Auftrag: Die Abgeschriebenen sollen mit Hilfe der Zeitung zurück in die Gesellschaft finden. Doch kann das gelingen: Mit Lokaljournalismus die Armut bekämpfen?
Vielleicht mit ihm und seiner besonderen Geschichte: Frank Schlößer, 53 Jahre alt, schwarze Brille, Journalist. Er sagt: „Journalismus ist keine Arbeit. Man ist Journalist. Fertig.“ Schlößer ist eine Art One-Man-Show, er ist der einzige Redakteur des Strohhalms. Er führt lange Interviews, rezensiert Bücher, schreibt Reportagen. Unter fast sämtlichen Artikeln im Strohhalm stehen seine Initialien: FS.
Schlößer ist ein Besessener, einer, der nicht loslassen kann. Auch, weil er das Gefühl hat: Da fehlt noch eine Stimme, um das Bild komplexer zu machen. Oft ärgert er sich über die großen Medien, die Grautöne weglassen. Dabei gehört er selbst zu diesen Grautönen.

Vor einem halben Jahr kam Schlößer zum Strohhalm und er hat große Ziele. Aus einem grauen Heft zum Weglegen soll ein ernsthaftes Lokalblatt werden. Schlößer sagt: „Wenn man es gut macht, dann kommen auch die Leser.“
Schlößer könnte für den Strohhalm so etwas wie Rettung sein – und umgekehrt ist der Strohhalm auch eine Rettung für Schlößer. Denn sein Leben hat eine dicke Kerbe, die er bis heute nicht rausbekommen hat. Die er vermutlich nie rausbekommen wird.
1966 geboren, wächst Schlößer in Leipzig auf. Nach der zehnten Klasse beendet er die Schule, macht eine Ausbildung zum technischen Maschinenbauer, anschließend zieht ihn die Armee ein, er wird an die Grenze geschickte. Und dann trifft er eine folgenschwere Entscheidung.
Im Frühling 1985 meldet sich die Staatssicherheit bei ihm. Ob er nicht Lust habe, ein wenig mitzuhelfen: Kennzeichen von Westautos aufschreiben, nichts großes. Schlößer wird Inoffizieller Mitarbeiter, IM, spioniert seine Kollegen in der Armee aus. Er macht seinen Job gut, enttarnt einen Nazi, so wird er es später erzählen. Als er nach drei Jahren aus der Armee entlassen wird, bietet ihm die Stasi eine Arbeitsstelle an, Schlößer unterschreibt. Er sagt: Er habe damals geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen, und: Er habe vor allem Bürokram gemacht. Er sagt: „Ich wollte bloß nicht wieder Maschinenbauer werden.“
Sein Leben lang wird Schlößer „der mit der Stasi-Vergangenheit“ bleiben. Er wird sich seine Akte holen, sich mit Opfern treffen, wird darüber reden und schreiben, wieder und wieder. Wird sagen: „Relativieren, das heißt nicht wegreden. Das heißt, in Beziehung setzen, das sollte doch erlaubt sein.“ Kann ein Mensch mit Stasi-Vergangenheit im wiedervereinigten Deutschland überhaupt noch etwas erreichen?
Schlößer wird Journalist.

Er studiert in Leipzig Journalistik und Afrikanistik, lernt Suaheli, besucht Tansania. Nach dem Studium zieht er mit seiner Freundin nach Rostock, weil sie einen Job im Norden bekommt. Er schreibt als freier Journalist für die Ostsee-Zeitung, dann wird eine Stelle im Kulturteil frei und Schlößer bewirbt sich, wird für passend gefunden, zum Gespräch gebeten. Dann erzählt er von der Stasi-Vergangenheit.
Warum hat er das gemacht? Er sagt: „Ich wollte nichts verheimlichen, irgendwie hatte ich das Bedürfnis das zu sagen.“ Schlößers Version der Geschichte ist: Nun hatte er den Stasi-Stempel. Eine feste Stelle bei einem Arbeitgeber mit Öffentlichkeit: aussichtslos.
Im Juli dieses Jahres, rund zwanzig Jahre später, sitzt Schlößer in einer Kneipe im Rostocker Szeneviertel KTV, trinkt tschechisches Bier, über die Boxen läuft Punkrock. Heute lebt er in einer kleinen Dachgeschosswohnung, vollgestellt mit Büchern. Er sagt: „Ich wollte immer vom Journalismus leben und jetzt darf ich das endlich.“
Schlößer hat eine lange Odyssee hinter sich. Ein paar Jahre arbeitete er als Pauschalist für den Ostsee-Anzeiger, einem Wochenblatt, dann gründete er 2007 gemeinsam mit einem Freund die Blauhut-Agentur, eine Journalisten-Agentur, mit der sie lokale Geschichten für überregionale Medien schreiben wollten. „Wir wollten das Bild von Ostdeutschland verändern.“ Eine Weile läuft das ganz gut, Schlößer schreibt für Print und Radio, aber dann geht sein Kollege nach Norwegen und Schlößer ist wieder auf sich gestellt.
Er sagt: „Es gibt doch immer nur diese eine Erzählung über den Osten. Es gibt immer nur schwarz und weiß und keine Grautöne.“ Wenn über den Osten berichtet wird, findet er, dann nur über Nazis und Natur. „Wenn was passiert, kommen Journalisten rüber, schreiben ihren Bericht und fahren wieder.“
Also weiter, und vor allem weiter lokal: 2011 das nächste Projekt, eine Rostocker Internet-Zeitung. Hyperlokal, so nennt sich der Hype, der in der deutschen Medienlandschaft aufkommt. Schlößer lässt sich eine Website bauen, mit schickem Logo. „Das ist Rostock“ heißt die Online-Zeitung. Schlößer schreibt Kommentare, damit Snowden einen Ehrendoktor erhält, „weil der als Einzelner das System herausgefordert hat“ und Berichte über das Gemauschel in der Rostocker Verwaltung. Er schreibt über das Denkmal für Mehmet Turgut, weil das viele in Rostock nicht gerne sehen. Er schreibt wie verrückt, obwohl dabei kaum etwas abspringt. Hyperlokal lässt sich einfach nicht finanzieren, 2017 wird das Projekt wieder eingestellt.
Statt dessen fängt er als Deutschlehrer für geflüchtete Menschen an, schreibt einen Kriminalroman über Ötzi, verfasst das Drehbuch für einen Dokumentarfilm über Meck-Pomm – und bewirbt sich schließlich bei Pressestellen. Aber es ist vermutlich seine Vergangenheit, die ihn im Journalismus hält. Niemand will ihn haben, einen Ex-Stasi-Mitarbeiter. Er sagt: „Wenn sowas einmal in der Welt ist, wird man es nicht mehr los.“
Bereut er es heute?
Auf seinem Computer hat Schlößer lange Texte über diese Frage gespeichert, alle unveröffentlicht. Darin schreibt er, dass er nie geschossen habe, und dass doch der Osten jahrelang von den Westmedien runtergemacht worden sei, immer noch runter gemacht werde. Er schreibt, die Einseitigkeit der Berichterstattung klebe noch heute wie Scheiße am Schuh. Er sagt, ja, er schäme sich, sagt, ja, er wolle auch über seine Vergangenheit reden. Aber über die Medien könne man das alles nicht aufarbeiten, denen fehlten doch die Zwischentöne.
Er sagt: „Wenn ich drüben bin, fühle ich mich immer unwohl. Da fehlen mir die Ossis.“
Schlößer ist kein Lokaljournalist weil er für seine Nachbarn schreiben will – er macht das aus dem Gefühl heraus: Ost-Erzählungen sind da draußen nicht gewollt.
Dieser Schlößer also sitzt am Freitagmorgen am Rande der Rostocker Innenstadt und packt die neue Ausgabe des Strohhalms auf große Stapel. Im Februar 2019 hatte er den Job bekommen und vielleicht ist er genau der Richtige für dieses Blatt. Ein Ostdeutscher, der mit seiner Vergangenheit ringt und mit der Erzählung darüber. Er hat eine mächtige Kerbe im Lebenslauf und das passt zu einem Heft, das von Menschen verkauft wird, die auch alle ihre Kerben haben, die auf die eine oder andere Art ausgestoßen wurden.
Schlößer und die Verkäufer, sie sind in diesem Projekt untrennbar verbunden. Und er hat große Pläne für das Blatt, will eine Kinder- und Jugendseite einrichten, soziale Themen groß machen, vielleicht sogar investigativ arbeiten. Er sagt: „Journalismus ist doch kein Lesespaß.“ Schlößer glaubt noch immer ans Lokale, und daran, dass man den Leuten auf die Finger schauen muss.