Als ich durch Chemnitz spaziere, kommt es mir vor, als würde die Stadt auf etwas warten. Heiße Luft steht in den breiten Straßen, keine Menschen zu sehen, die Bäcker hängen Mittagspausenschilder an die Türen und zum Bild fehlen nur noch Straßenhunde, die sich in den Schatten der leer stehenden Häusern verkriechen.
Es wirkt so, als könnten jeden Moment die Leipziger Hipster einfallen und ihren nächsten Abenteuerspielplatz eröffnen. Die Stadt wäre wie gemacht dafür: Sozialistische Blockbauten wechseln sich mit renovierungsbedürftigen Gründerzeithäusern ab, dazwischen erstrecken sich leere Parks und leere Betonflächen. Eine Stadt, die wirkt, als hätten die Bewohner ihr endgültig den Rücken zugekehrt.
Doch Chemnitz wird natürlich kein zweites Leipzig mehr werden, die Nummer ist durch. Denn Chemnitz steht mittlerweile für Nazis, Hooligans und Hetzjagden. Für viele Menschen in Westdeutschland steht Chemnitz für alles, was schlecht läuft im Osten. Und für viele Menschen in Chemnitz kommt alles, was schlecht läuft, vom Sonnenberg: 14 000 Einwohner, zerfallene Gründerzeithäuser, Plattenbauten.
Am Rande des Viertels erhebt sich das Stadion an der Gellertstraße aus der Mitte eines großen Parkplatzes wie ein grauer Klotz in blauem Rahmen. Es ist das Stadion des Chemnitzer FC. Ein aufgeladener Ort, an dem sich alles konzentriert, denn der Sonnenberg ist nicht nur eins der ärmsten Viertel der Stadt, sondern auch Brutstätte für die berüchtigten Nazi-Hooligans, die Ultras vom CFC.
Es heißt, mehr als die Hälfte der Fans rekrutiert sich vom Sonnenberg und: mehr als die Hälfte der Fans ist rechts. Klare Sache also?
Was in der Ost-West-Debatte immer wieder schief läuft, ist die Kollektivierung. Das Motto: Chemnitz, Ostdeutschland, DDR. Dabei muss doch klar sein: Will man die Gewalt in Chemnitz verstehen, dann sollte man beim Sonnenberg anfangen.
Zwei Tage später komme ich mit einem befreundeten Journalist zurück auf den Sonnenberg. Hunderte Fußballfans haben sich vor dem Nischel versammelt, um zum Stadion zu laufen, wie damals vor einem Jahr. Betrunkene Glatzköpfe, Stiernacken, Nazi-Tatoos auf den Waden. Ein Mob. Sie schreien und wüten. Für ein paar Stunden nehmen sie sich die Straßen, einfach, weil sie es können. Wer kann, hält sich von der Route fern. Niemand stellt sich ihnen in den Weg. Vermutlich wäre es auch Wahnsinn. Denn für die Chemnitzer sind das nur ein paar Stunden, in denen die Nazis marschieren –danach sieht die Stadt ja wieder aus wie an jenem Freitag, ein Ort, aus dem mal etwas werden kann.
Um die Gewalt in Chemnitz zu verstehen, muss man verstehen, wie die Armut in den Sonnenberg gelangt ist, wie das Stadion zum Ventil wurde, nicht erst nach der Wende sondern schon lange vorher, schon in den Achtzigern, als der tätowierte Pöbel seine Sprachlosigkeit in Wutschreien entlud. Man muss verstehen, wie Nazis über Jahre hinweg die einzigen Menschen waren, die über den Fußball an die Jugend herankamen, wie sie ihre Strukturen aufgebaut haben, ihre Netzwerke strickten und die Regierung nichts dagegen unternahm, weil sie Fremdenfeindlichkeit nicht als Problem ansah.
Um die Gewalt in Chemnitz zu verstehen, reicht es nicht, zu kommen, wenn die Nazis sich die Straßen nehmen, man muss kommen, wenn sie es nicht tun. Und dann wird man Aktivisten treffen, die auf dem Sonnenberg das Marx-Mobil anbieten, weil viele Busse nicht mehr fahren, man wird Studierende treffen, die in Hinterhöfen feministische Filme zeigen, einfach um Alternativen zu schaffen. Und dann sollte man schleunigst den Begriff Chemnitz vom Hass loslösen, weil genau das ist, was die Nazis wollen: Dass sie das Bild der Stadt bestimmen.
Wahlkampf Wahlkampf Wahlkampf Wahlkampf
Doch das braucht Zeit und meine Reise geht zu Ende. Also reise ich weiter, mit Alex, Sozialarbeiter aus Zwickau auf dem Weg zum Punk-Festival in Torgau. Lange Haare, schwarzes Shirt, tätowierte Arme. Er stammt aus Zwickau, war lange weg, ist jetzt wieder da. Sagt: „Man muss mit den Jugendlichen reden, immer wieder, auf Augenhöhe. Und man muss Alternativen schaffen, sonst landen sie bei den Rechten.“ Er erzählt davon, wie frustriert er über die Polizei ist, die einfach wegschaut, wenn Nazis randalieren und Parolen grölen, er erzählt vom Chrystal Meth, das schon Kinder rauchen, weil es so massiv in die Schulen schwappt und er erzählt von den einzelnen guten Momenten, wenn ein Jugendlicher vom Nazikonzert zur Gegenveranstaltung geht, um sich beides mal anzuschauen. Man muss klein anfangen und man braucht Geduld.
Nur, Geduld hat hier natürlich niemand mehr. Sachsen steht am Scheideweg, kurz vor schwarz-blau. Auch die, die nicht drüber reden wollen, reden drüber, entweder weil sie finden, dass endlich mal was passiert oder weil sie panische Angst davor haben, dass so etwas dann passiert. Sie reden drüber an Jürgens Bratwurstbude in Leipzig und vorm Balboa im Chemnitzer Brühl, sie reden drüber in der Dresdner Neustadt und klar, auch auf den Landstraßen des Freistaats.
Weiter nach Norden, vorbei an Ausrufezeichen auf Wahlplakaten und dem absurden Versprechen von zusätzlichen Polizisten. Als wäre das das Problem. Alle zehn Meter hängt ein Plakat am Laternenpfahl, dass einem ganz schwindelig wird vor lauter Gerechtigkeit und Altenpflege und Weltrettungsempfehlungen.
Und dann wird’s komplett irre. In Brandenburg steht auf den Schildern der AfD: „Vollende die Wende“ und „Damals wie heute: Wir sind das Volk“. In Brandenburg. Auf den Dörfern. Als wären Fürstenwalde und Storkow Brutstätten der friedlichen Revolution gewesen, als hätten die West-Politiker*innen der AfD damals eigenhändig die Mauer umgestoßen. Was natürlich Quatsch ist, aber das interessiert niemanden mehr. Es geht ums Gefühl.
Und dieses Gefühl versuchen alle im rasenden Tempo zu ergründen. Mittlerweile hat die Republik den Osten auf dem medialen Schirm. Es werden Korrespondenten aus allen Ecken des Landes hervorgekramt und nach Ostdeutschland geschickt. Und dann kommen alle auf den genialen Schluss: Abgehängter Osten wählt aus Frust die AfD. Weil einem das die Leute auf dem Marktplatz erzählen und die AfD das auch so erzählt und dann sind sich alle einig und fahren wieder nach Hause und niemand hat etwas verstanden. Denn die ganze Nummer ist natürlich viel komplexer und man kann nur hoffen, dass der Westen nach der Wahl immer noch zuhört und der Osten endlich mal in Ruhe mit sich selbst spricht.
Einmal durchatmen bitte
Auf dem Weg nach Norden fahre ich bei Ben mit, der jahrelang in einem Chemiekonzern geschuftet hat und nun endlich sein eigenes Start-Up gründen will und bei Lou, die mit ihrem Bauwagen in Meißen wohnt, zusammen mit einer Gruppe Aussteiger*innen. Und ich freue mich darüber, wie unterschiedlich Lebensentwürfe in diesem Land sein können.
An der Spree lasse ich mich rauswerfen und treffe mich mit Katrin, die vor der Wende als Sprechstundenschwester gearbeitet hatte. Wir sitzen im Eiscafé und trinken Cappucino, dazu ein Eisbecher und ein Leben im Zeitraffer. Katrin hatte in einem jener Jobs gelernt, die es nach der Wiedervereinigung nicht mehr gab, weil das System nun aus dem Westen kam. Sprechstundenschwester nannte man das. Nach dem Gespräch frage ich mich: Was machst du, wenn es von heute auf morgen deinen Beruf nicht mehr gibt? Und: Wie sehr ist es eine Vereinigung, wenn nur eine Seite bestimmt, wie es fortan weitergeht?
Die Tage sind prall gefüllt, die Sonne macht das Leben auf der Landstraße zum Abenteuer. Als die Sonne untergeht verlasse ich den Ort und laufe durch einen immer dunkler werdenden Wald in Richtung Osten. Laternen werfen ein fahles Licht, Transporter brettern an mir vorbei über die Landstraße. Der Wald erwacht nachts zum Leben, um mich herum raschelt es im Gebüsch und ich hebe einen schweren Stein auf. In Brandenburg, fällt mir ein, soll es doch Wölfe geben. Furcht ist ein starkes Gefühl.
Natürlich begegnet mir kein einziger Wolf.
Übrigens: Der Wolf ist in Brandenburg eins der großen Wahlkampfthemen gewesen. Ein Tier, das niemand sieht.
Im Dunkeln erreiche den Gutshof am Rande eines kleinen Dorfes. Anfang des Jahrhunderts lebten hier jüdische Handwerksgesellen gemeinschaftlich zusammen. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde der Ort zum Refugium, versteckt in den Wäldern. Von hier aus flohen etliche nach Palästina, schufen sich ein neues Land, bis die Nazis den Hof dann doch entdeckten. Das Ende war ein Ende in Schrecken.
Heute soll der alte Gutshof wieder ein gemeinschaftlicher Ort werden. Und, das ist jetzt ein kitschiges Ende einer Wanderschaft, als ich über einen Waldweg schließlich die ersten Gutshäuser erreiche, treffe ich auf dutzende reisende Handwerksgesell*innen, die schon seit Monaten den Hof renovieren. Männer und Frauen, die schwere, schwarze Hosen tragen und Zylinder. Reisende Zimmerer, Bäcker, Schneiderinnen, Schuhmacher.
Einmal im Jahr treffen sich Gesell*innen auf der Walz, um mit einer Sommerbaustelle ein soziales Projekt zu unterstützen. In diesem Jahr ist es das Hausprojekt in Brandenburg. Und mit einem Mal kann ich den ganzen Wahl-Wahnsinn und die Anspannung abschütteln. Die laute, schnelle Politik hat hier keinen Platz, statt dessen trinken wir Bier am Lagerfeuer und essen gemeinsam an langen Tischen.
Dort merke ich, wie aufgeregt das Land eigentlich ist. Wie schnell alles gehen muss: Das Verstehen, das Ergründen von Ereignissen – und selbst das Zuhören passiert im Zeitraffermodus. Lasst uns mal gemeinsam durchatmen, denke ich, lasst uns Zeit nehmen, zurücklehnen, die Wut runter schlucken. Hilft doch nichts.
Letzte Station mit einem tragischen Ende
Am Donnerstagmittag spaziere ich in ein winziges Dorf im Oderbruch. Neulitzegöricke: Zwei lange Pflastersteinstraßen, die einen Park einrahmen, eine Alle aus Eichen, eine Kirche, eine Pfarrerin, eine Dorfkneipe, ein Café für Fahrradtouristen, einen kleinen Laden und ziemlich viel Geschichte. Dort will ich den Spuren einer Frau nachgehen, die als Kinderfrau in Eberswalde auf meine Großmutter aufgepasst hatte, damals in den vierziger Jahren. Meine Oma floh nach dem Krieg in den Westen, die Kindefrau blieb im Osten. Meine Frage: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Denn Gertrud Bowitz ist vor fast dreißig Jahren gestorben.
Ich betrete den Dorfladen und beginne meine Recherche. „Hallo, ich heiße Paul Hildebrandt, bin reisender Journalist und ich habe eine etwas ungewöhnliche Frage: Kennen Sie eine Gertrud Bowitz?“
Was dann passierte, erzähle ich noch einmal in Ruhe. Nun ein kleiner Zeitsprung: Es ist schon dunkel, als ich von der Dorfkneipe aus in Richtung Friedhof laufe. Zwischen Dorfriedhof und Feld gibt es eine kleine Wiese. Der Bürgermeister von Neulitzegöricke hatte mir gesagt, ich solle mir einfach ein Plätzchen suchen. Dort will ich mein Zelt aufstellen. Die Nacht ist warm, der Himmel wolkenfrei und in meinem Bauch beginnt es zu rumoren. Es folgen unangenehme Stunden.
Am nächsten Morgen habe ich hohes Fieber und einen ausgeleerten Magen. Mir ist schlecht. Nur wenige Tage vor dem offiziellen Ende beschließe ich meine Reise abzubrechen, zurück nach Berlin. Doch in diesem Dorf fährt nur zwei Mal am Tag der Bus. Das nächste Mal am Nachmittag. Ich sammle meine letzte Kraft und schleppe mich zum Ortsausgang, Daumen raus. Eine ältere Dame hält. „Junger Mann, zu Ihrem Bahnhof geht’s genau in die andere Richtung. Aber ich kann sie zu einem anderen Bahnhof mitnehmen.“ Ich habe keine Energie mehr, also steige ich ein. Meine Fahrerin hört nur sehr schlecht, will aber trotzdem mit mir reden. Ich bin eigentlich zu erschöpft zum Sprechen, aber möchte höflich sein. Wir brüllen uns eine halbe Stunde lang Dinge ins Ohr, dann erreichen wir den Bahnhof. Der Schock: Der Zug fährt nicht. Und nun? Am Bahnsteig sitzen zwei syrische Jungs, die in München wohnen und ihre Familie in Brandenburg besuchen. Sie nehmen mich unter ihre Fittiche. Ich schlafe halb auf meinem Rucksack und kämpfe gegen die Übelkeit, die beiden lotsen mich zum nächsten Bus, helfen mir beim Umsteigen in die Bahn und bringen mich sicher zurück nach Berlin. Shukran!
Und nun: Zweimal durchatmen, sacken lassen, Notizen durchstöbern, ausschlafen und dann schreiben: Postkarten, Antwortmails, Dankesgrüße – und ja, auch noch ein paar Geschichten.
Aber dafür will ich mir Zeit nehmen, läuft ja nicht davon.