Wie ich mit einem Rechten Spaghetti-Eis aß und andere Tramp-Geschichten
Die Landstraße franst an den Rändern aus, nur eingerahmt durch knorrige Birnbäume, als hätte sie jemand mit einem Pinsel in die grüne Landschaft gemalt. Aus einem Busch fauchen mich Waschbärenbabys an, über die Wiesen staken erhaben die Störche. Am Himmel drückt der Wind dunkle Wolkenberge in meine Richtung und mit einem Mal merke ich, wie schutzlos ich eigentlich bin. Ich habe Angst, dass mich der Sommer verlässt.

An der Landstraße sammelt mich Fabian ein, Anfang 20, schwarzes Cabrio. Er raucht Malboro und sagt: „Hier gibt es viele alte Leute, aber keine Pflegekräfte. Die, die es gibt, werden in den Einrichtungen verheizt und müssen eine Massenabfertigung liefern. Das ist doch scheiße.“
Finde ich auch. Aber was tun? „Na die Ausbildung auf dem Land verbessern!“
Kleine Dörfer schmiegen sich an die Routen der Fahrradtouristen, in bequemen Abständen tauchen Cafés auf, die Kunst verkaufen. Dazwischen werben Plakate für Cover-Bands von Rammstein und Simon&Garfunkel. Ein Pärchen sammelt mich ein, kommt aus der Gegend, sagt: „Es kommen auch immer mehr Touristen hierher. An die gewöhnt man sich langsam, nur die Ungeduld nervt, wenn die mal wieder an der Ladenkasse drängeln. Sowas von Deutsch.“
In einem Bäcker am Straßenrand sitzen zwei Hamburger. Gesetztes Alter, er Jacket, sie Strickjacke. „Alle Läden haben hier zu“, sagt er. Sie: „Ja genau, wirklich alle Läden haben hier zu.“ Sie wiederholt es noch einmal und zieht dabei die Augenbrauen extra hoch. Dann: „Und die hatten nicht mal genug Maurer hier, um ihre Burg zu bauen. Die haben sie sich extra aus Italien geholt.“ Er schüttelt mit dem Kopf: „Keine Maurer.“
Westdeutsche auf Durchreise.
Ich lande an einem großen See und strecke die Füße auf. Ein Junge kommt, schwarze Haare zur Seite gekämmt, große Kopfhörer um den Hals gelegt, aus dem Rucksack ragen lange Angelrouten. „Und, was fängst du?“ „Nur Weißfische, Raubfische darf ich noch nicht.“ Tim ist 15 Jahre alt, kommt aus dem Dorf, spielt drei Instrumente, will mal in Rostock studieren, findet Umweltschutz wichtig, aber hat keine Zeit um zu Friday für Future zu gehen. Er wirft die Angel aus, wir sitzen schweigend nebeneinander. Dann beißt was an, er zieht die Schnur heran und holt den Fisch ganz sanft aus dem Wasser. Viel zu klein zum Essen. „Für den Opa, der hat zu viele Insekten im Teich.“
Tim mag das Leben auf dem Land. „Man hat hier seine Ruhe.“ Es passiert nicht viel, die Geschichten sind alle erzählt. „Vor hundert Jahren gab es hier mal ein Dorf, dann kam eine Flut und ließ es im See verschwinden. Wenn man schwimmen geht, sagen die Leute, kann man wohl die Kirchturmspitze berühren.“
Weiter nach Osten über die Landstraße, die Luft ist kalt geworden, Nieselregen sprüht auf die Windschutzscheiben. Uwe Schlabach hält, Schornsteinfeger, redet ohne Pause. „Als Schornsteinfeger ist man ja eine Art Seelentröster. Man ist eigentlich immer am Puls der Zeit, weil die Leute einem ihr Herz ausschütten.“ Schlabach ist Pfarrersohn, wollte mal Handwerker werden, aber dann hat die DDR alles kollektiviert. Also Schornsteinfeger, ist auch ein ehrenwerter Beruf. „Nur schätzen die Leute unsere Arbeit immer weniger. Dabei: Wenn das niemand machen würde, könnt’s schnell anfangen zu brennen.“
Von einem Auto ins nächste. Trampen auf dem Land funktioniert hervorragend. Manchmal sitzen wir nur wenige Minuten zusammen, dann eine halbe Stunde. Immer wieder höre ich: Früher war mehr Gemeinschaft.
In Meyenburg treffe ich Petra, bei ihr wurde gerade eingebrochen, hundert Euro geklaut. Die Polizei kam, nahm die Spur auf, bedankte sich, ging wieder. „Ich glaube nicht, dass da noch was passiert.“ Was auch?
Ich verbringe den Nachmittag mit Frank, Rosie und Elke und übernachte in der Gartenlaube. Am nächsten Morgen frühstücke ich noch mit Rosie und wir blättern Fotoalben durch. Du brauchst nicht nach Hollywood zu schauen, hat mal der Rocksänger Sven Regener gesagt, die wahren Dramen gibt’s hier bei Frau Meyer nebenan. Trifft auch auf Rosie zu.
Per E-Mail lädt mich Frank Schlößer nach Rostock. „Kannst bei mir pennen“, schreibt er. Also hin. Von einem Auto ins nächste, von einer Geschichte zur nächsten.
Johannes sammelt mich ein. Ihm gefällt mein Hut. „Das sieht so altdeutsch aus.“ Johannes hat ein kleines Unternehmen, fährt ein schickes Auto und glaubt, alles sei von oben gesteuert. „Ich lese nur Geschichtsbücher von vor 1945.“ Als ich ihm sage, dass ich Journalist bin, lädt er mich zum Spaghettieis ein. Sehr lecker, mit Hasel- und Walnüssen. Johannes findet natürlich, es gebe zu viele Ausländer. Als ich ihn frage: „Hier in Plau?“, druckst er rum, dann: „Nein, hier noch nicht. Aber in Berlin. Da gibt es Gegenden, da geht die Polizei nicht mehr hin.“ Habe ihm ein Bekannter erzählt. Aha.
Er findet Umweltschutz wichtig, aber Friday for Future werde auch von oben gesteuert. Die Jugend sei weichgespült und Gehirngewaschen. „Hast du eigentlich Kinder?“ „Ich selbst? Nee.“
Aha.
Next stop: Uwe, Autobahnpolizist. Er kommt, wenn der Unfall schon passiert ist. „Sieht man oft unschöne Sachen.“ Vor der Arbeit hört er Rosenstolz im Auto, auf dem Rückweg Oldies aus dem Radio. „Wenn die Leute mit 160 Sachen über die Autobahn rasen und sich dann wundern, wenn sie in eine Wildschweinherde brettern – da kann ich nur sagen: Wozu ham wa denn die großen Schilder hier?“ Uwe ist für Tempo-Limit und für null Promille. Zum Abschied gibt es noch eine DDR-Geschichte: „Als die Elbe zugefroren war, sollten wir als Polizei hin und die Leute am rüberlaufen hindern. So ein Blödsinn, als ob da jemand rübergelaufen wär bei der Kälte. Aber wir haben uns mit den Grenzern ne gute Zeit gemacht.“
Die schnuckeligen Dörfer weichen Industriegebieten, leere Betonflächen, große Flaggen, die Wohlstand versprechen. Nur kommt der nicht bei allen an. Gaby hat zwei Kinder und zwei Jobs, arbeitet „knapp überm Mindestlohn, aber immer noch besser als Betteln.“
Und dann erreiche ich Rostock. Letzter Tramp: Drei Berufsschüler, finden: der öffentliche Nahverkehr ist zu teuer. Die Stadt: Großer Hafen, Regenbogenflagge weht am Bahnhof, in den Kneipen sprechen die Gäste auch Englisch. Man trinkt Rostocker und Enterhaken. Ich übernachte bei Frank Schlößer, wir trinken Bier und reden viel, über gestern und heute, über die Doku: „Am Ende der Milchstraße.“ Über West und Ost.

Am folgenden Tag früh raus, in die Redaktion der Straßenzeitung. Filterkaffee, Croissant vom Netto. Falko und Marko kommen rein, um Zeitungen mitzunehmen. Breitschultrige Typen mit Gesichtern, die von einem harten Leben erzählen. Ob ich bei ihnen mitlaufen kann? „Na klar. Falko verkauft, ich pass auf ihn auf, damit ihn keiner überfällt.“ Wir laufen gemeinsam durch die Innenstadt: Zwei gute Freunde am Rand der Gesellschaft und ich, der Journalist.
Gute Zeit, demütig zu werden vor den Untiefen des Lebens.