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Drei Gedanken zum Schluss

Fast zwei Monate lang bin ich im Sommer durch Ostdeutschland gewandert und getrampt. Ich habe in fremden Wohnzimmern, Gästezimmern und Vorgärten übernachtet, habe für Lokalzeitungen gearbeitet und bin mit unzähligen Menschen ins Gespräch gekommen. Ich habe eine „Wortwalz“ durch Ostdeutschland gemacht. Nicht, um danach etwas erklären zu können, sondern um von den Menschen zu erzählen.

Meine Reise hatte keine Route, keinen Plan. Ich habe mich treiben lassen. Dabei habe ich eine Menge gelernt. Drei Gedanken möchte ich teilen:

1. Weghören

Es ist Ende Juli, ich stehe auf dem alten Flugplatz in Zwickau. Motorenlärm erfüllt die Luft, ich schlucke Staub. Vor mir hüpft ein junger Mann mit nacktem Oberkörper auf und ab und singt rassistische Lieder durch ein Mikrophon.

Dann werde ich von der Seite angesprochen, ein großer Typ mit Sonnenbrille. Er sagt: „Endlich mal normale Leute hier.“ Er nennt sich Carsten. Normale Leute? Bitte? Ich halte das Mikrophon hin und frage: „Was meinst du damit?“ „Na Leute, denen noch nicht der Kopf gewaschen wurde, die noch vernünftig denken können, nicht so wie die ganzen Wessis. Die sind doch alle total verstrahlt.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, legt er los. Spricht über „Genderwahn“ und „Kopftuchzwang“, sagt „Claudia Roth die dumme F***“. Es ist eine abscheuliche Rede – und genau deshalb nehme ich immer weiter auf. Das ist doch schließlich mein Job: dokumentieren. Oder?

In den folgenden Wochen geht mir Carsten nicht aus dem Kopf: Ein lauter Mann, der sich ungefragt den Raum nimmt. Er macht sich dort breit, wo eigentlich andere Gesichter auftauchen sollten: Das von Milena zum Beispiel, von Andreas, von Felix, von Ömüt, von Regina. Gesichter von Menschen, die sich nicht nach vorne drängeln – und die dennoch etwas zu erzählen haben. Aber Carsten ist lauter, eindringlicher. Er macht mich wütend. Und das ist ein Problem. Denn Carsten steht für all jene, denen wir zuhören, obwohl wir uns eigentlich abwenden wollen: Den Gaulands, Höckes und Weidels dieser Gesellschaft. Menschen, die laut, unhöflich und übergriffig sind – und die trotzdem ständig reden dürfen. Wir teilen ihre Beiträge auf Twitter und Facebook, weil wir der Welt zeigen wollen, wie schrecklich sie sind. Was wir damit in Wirklichkeit erreichen: Wir geben ihnen Reichweite. Sie werden gehört, andere hingegen nicht.

Das ist meine erste Lektion. Sie lautet: Ich entscheide darüber, wem ich zuhöre. Wenn ich das will, dann darf ich mich einfach umdrehen und weggehen. Niemand hat das Recht auf ein Podest. Meine Aufmerksamkeit ist begrenzt. Wenn ich meine Zeit und Energie den Schreihälsen widme, dann bleibt weniger für die anderen übrig. So einfach ist das und so gefährlich.

2. Zuhören

Ich beschließe: Das will ich anders machen. Deshalb fahre ich auf dieser Reise nicht zu lauten Orten, sondern zu den leisen.

Es ist Mitte Juli, der Himmel zieht sich weit und wolkenverhangen bis zum Horizont, Nieselregen legt einen grauen Schleier über die Welt. Ich stehe an einer Landstraße in Mecklenburg-Vorpommern, nur geschützt durch eine alte Buche. Der Sommer und die Reiseeuphorie haben sich gemeinsam verabschiedet. Mir ist kalt und weiß nicht, wo ich heute Nacht schlafen soll.

Dann hält ein schwarzer Peugeot. Eine kräftige Frau steigt aus, ich spule meine Sätze runter. „Ich bin am Trampen, können Sie mich ein Stück mitnehmen?“. „Na klar, steig ein.“

So wird das übrigens sieben Wochen lang laufen. Wenn die Menschen halten, haben sie bereits entschieden, mich mitzunehmen. Alles andere, wer ich bin, wo ich hinwill, was ich eigentlich dort mache – das wird erst im Auto geklärt. Mich beeindruckt das, es bedeutet: Es gibt eine Art Grundvertrauen in der Gesellschaft. Das ist der Beweis.

An jenem Juli-Sonntag setze mich auf die Rückbank, vorne: Conni und ihr Mann. Er trägt seine grauen Haare zum Zopf gebunden und spricht nicht mit mir. Dafür redet sie, Conni, mit norddeutschem Akzent, der die Vokale lang macht und die Konsonanten weich.

Sie erzählt von ihrer Arbeit als Fußpflegerin und davon, wie hart das Leben als Freiberufliche ist, davon, dass sie nicht viel verdient, viele Ausgaben hat – und trotzdem noch hohe Steuern zahlen muss. Davon, dass sie eigentlich nie krank sein darf, weil ihr das niemand bezahlt.

Ich frage: „Bist du wütend?“ Sie sagt: „Wütend? Nee. Ich freu mich ja, dass ich das machen kann. Würd mir nur mehr Anerkennung wünschen.“

Dann lädt sie mich zu Kaffee und Kuchen ein, weil Sonntag ist und außerdem gibt es da noch etwas zu erzählen. Wir fahren in ihr Dorf, wo vor der Wende der Zug hielt und heute kaum noch ein Bus hinfährt. Eine lange Straße eingerahmt von Bauernhäusern, auf den Gehwegen stolpern drei Männer vom Frühschoppen heim. Conni wohnt in einem Einfamilienhaus. In der Küche gießt sie heißes Wasser auf Kaffeepulver und holt Tiefkühltorte aus dem Kühlschrank. Ich versuche mit ihrem Mann ins Gespräch zu kommen. Er antwortet mir immer noch nicht. Conni und ich setzen uns auf breite Sessel, dann beginnt sie zu erzählen.

Sie ist in Melchin aufgewachsen, hat Köchin gelernt, hier und dort gearbeitet. Zwei Töchter geboren und dann kam die Wende. Alle werden arbeitslos, die Nachbarn, die Bekannten, die Freunde. Die Einschläge kommen immer näher, Existenzängste. „Was machst du?“ Weiter, einfach weiter. Sie bindet Blumenkränze für den Friedhof, dann hat ihr Mann einen Unfall, wird arbeitslos, sitzt zu Hause, tut nichts mehr. Wenn niemand hinschaut, dann weint Conni jetzt, geht dafür auf die Toilette oder wartet bis niemand mehr zu Hause ist. In ihr drin ein schwarzer Fleck, der immer größer wird. Dann wird sie entlassen. Und dann ändert sich alles.

Die Hausärztin schickt sie zur psychosomatischen Kur, sechs Wochen an der See. Als sie wiederkommt, ist sie wie ausgewechselt. Sie sagt: „Plötzlich war da dieses Selbstbewusstsein. Auf der Kur habe ich mich endlich ganz viel mit mir selbst beschäftigt.“ Die neue Conni nimmt ihr Leben in die Hand. Geht nach Stralsund, um sich zur Pflegerin ausbilden zu lassen, kommt nur an den Wochenenden zurück, tanzt dort in Kneipen, spürt sich selbst, schüttelt die Apathie ab, die sie jeden Tag bei ihrem Mann gesehen hat.

Als sie zurück nach Hause kommt, lässt sie sich einen Kolibri als Tattoo in die Wade stechen. (Das klingt so Klischee, aber es stimmt!) Sie sagt: „Mein Mann der Bernd musste sich erstmal an meine neue Rolle gewöhnen.“ Denn jetzt bestimmt Conni wie es weitergeht. Sie mietet sich in eine Praxis ein, fährt mit dem Auto übers Land zu ihren Patienten, unterstützt ihre Töchter – und entscheidet sich auch dafür den Tramper mitzunehmen. Ohne ihn zu fragen.

Als der Kaffee ausgetrunken ist, verabschiede ich mich von Bernd. Ich sehe: Er hat Hörgeräte. Im Auto erzählt mir Conni: Bernd und sie hatten sich beim Tanzen kennen gelernt. Bernd liebte Rockmusik und sammelte Platten. Er arbeitete damals im Holzbau, sein ganzes Leben spielte sich im Betrieb ab. Er verbrachte die Tage dort und auch die Abende. Nach Feierabend ging er mit den Kollegen Bier trinken. Doch dann kam die Wende und der Betrieb ging pleite und die Freunde verschwanden, nur der Alkohol blieb – und dann schwand auch noch das Gehör und damit die Rockmusik und Bernd wurde schlagartig alt, während Conni noch einmal von vorne anfangen durfte. Und jetzt ist Conni, die die redet und Bernd, der der schweigt. Sie sagt: „Früher war das anders.“ Dann steige ich aus, wir schütteln die Hände und Tschüß.

Ich habe unterwegs vieler solcher Geschichten gehört. Sie haben diese Reise ausgemacht, deshalb bin ich losgezogen. Es sind kleine Geschichten mit großen Dramen. Es sind die Geschichten von nebenan, die auch in Hollywood spielen könnten, aber die nie jemand erzählt.

Weil wir zu wenig zuhören, wenn es leise ist.

3. Reden

Die letzte Erfahrung ist eigentlich ein Resultat aus den ersten beiden, sie lautet: Lasst uns miteinander reden. Lasst uns Fragen stellen. Lasst uns zustimmen und widersprechen.

Bevor ich auf diese Reise gegangen bin, wusste ich sehr wenig über Ostdeutschland. Eigentlich war es mir ziemlich egal. Hätte ich einen Menschen getroffen, der in den neuen Bundesländern aufgewachsen ist – wir hätten vermutlich nicht über Ost- und Westdeutschland gesprochen.

Auf meiner Reise war das anders: Ich wollte Geschichten sammeln und Perspektiven erfahren. Also habe ich nachgefragt und wir haben geredet. Denn unabhängig davon, auf welcher politischen Seite man steht: Ost- und Westdeutschland ist für viele Menschen ein wichtiges Thema.

Die Wende und ihre Folgen berührt das Leben von Arno dem Ex-Bürgermeister genauso, wie das von Rosemarie, der Kleingartenbesitzerin. Es berührt das Leben von Felix, dem Judaistikdoktoranden und das Leben von Tino, dem Sozialarbeiter. Es berührt das Leben von Clemens, von Rita, von Hassan, von Marko und auch von Jochen. Egal wie alt sie sein mögen, unabhängig von ihrem Einkommen: Die Wende und ihre Folgen hat ihr Leben geprägt. Und obwohl ich nicht mit jeder ihrer Deutungen einverstanden bin, habe ich doch wahnsinnig viel gelernt.

Darüber, was es bedeutet einen Betrieb retten zu müssen, der bereits abgewirtschaftet ist, über das immer wieder kehrende Wort „Existenzangst“, über das Gefühl nicht wahr- und ernst genommen zu werden, darüber, wie man an einem Ort lebt, an dem Nazis die öffentliche Meinung bestimmen, wie man vor ihnen wegrennt, wie man sich ihnen stellt.

Ich bin mit Menschen ins Gespräch gekommen, die zuerst Journalisten für Lügner und Wessis für Betrüger hielten – und hinterher sagten, das ist ja eigentlich Quatsch. Ich habe mit Leuten gesprochen, die ganz selbst verständlich rassistische Sprache benutzen und anschließend meinten: Stimmt eigentlich, das sollte man lassen. Und ich saß im Auto mit solchen, die meinten: Gegen Ostdeutsche wird immer die Nazikeule geschwungen. Und als ich ausgestiegen bin, musste ich sagen: Ein Stück weit hast du Recht.

Ich habe etwas erfahren, weil ich auf die Menschen zugegangen bin, weil ich Fragen gestellt habe, weil ich zu- und auch weil ich weggehört habe. Und ich glaube: Nicht nur für einen Journalisten ist das eine wichtige Erfahrung.

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