Die Gruppe „Aufbruch Ost“ fährt von Ort zu Ort, um mit Menschen in Ostdeutschland über die Nachwendeerfahrungen zu sprechen. Damit wollen sie einen Rechtsruck verhindern. Kann das gelingen?
Im vergangenen Oktober habt ihr euch in die Leipziger Innenstadt gestellt, mit Plakaten, auf denen stand: „Treuhand Aufarbeitung jetzt.“ Warum?
Jette Hellberg: Seit neun Jahren organisiert in Leipzig das Tourist Marketing ein Lichtfest in Erinnerung an die großen Demonstrationen im Oktober ’89 nach dem Motto: Einheit gut, alles gut. Dabei wird die andere Perspektive komplett vergessen. Die Brüche durch die Einheit: 8.500 Betriebe wurden durch die Treuhand abgewickelt, drei Millionen Erwerbstätigen verloren innerhalb von vier Jahren ihre Arbeit. Diese Sachen müssen bearbeitet werden, sie sind aber nicht Teil des allgemeinen Narrativ. Wir wollen das ergänzen und kritisch begleiten.
Man könnte doch nun sagen: Ja, ist blöd gelaufen – aber eben auch schon dreißig Jahre her. Warum sollen wir uns jetzt wieder damit beschäftigen?
Stefan: Die Auswirkungen davon sind bis heute spürbar. Die Deindustrialisierung, die weltweit so vermutlich einzigartig war, ist bis heute spürbar. Das sieht man beim Einkommen, bei den Renten und bei den Investitionen in die Infrastruktur.
Jette: Außerdem werden im kommenden Jahr die Treuhand-Akten nach und nach offen gelegt. Nicht alle, aber einige. Es wird dann auch um eine Aufarbeitung der Skandale gehen, die es damals gab. Wir fordern deshalb zum Beispiel einen unabhängigen Untersuchungsausschuss.

Zum Weiterlesen: „Die Treuhand, verständlich erklärt“, via Krautreporter
Seit einigen Wochen stellt ihr euch auf Marktplätze in Sachsen und Brandenburg und versucht mit Menschen über die Treuhand ins Gespräch zu kommen. Wie reagieren die Leute?
Jette: Unterschiedlich. Auf der einen Seite meinen manche: So könnte man vielleicht auch in Ostdeutschland linke Politik gestalten. Auf der anderen Seite haben sich viele AfD-Wähler auf unserer Facebook-Seite gemeldet und kommentiert: Die Linke hätte doch bisher eh nichts geschafft. Wir haben aber insgesamt gemerkt: Es gibt ein großes Interesse.
Stefan: Wir sind viel auf dem Land unterwegs und merken: Es gibt viel Zulauf auch von einer älteren Generation. Am Anfang haben sich vor allem junge ostdeutsche Studierende für das Projekt interessiert. Das fand ich erstaunlich, denn ich hatte in meinem Freundeskreis eher den Eindruck: Das will man nicht bearbeiten, weil das kein Thema mehr ist. Jetzt zeigen Studien: Die Stigmatisierung von Ostdeutschen durch Westdeutsche führt dazu, dass eine neue Generation wieder mehr über den Osten reden will.
Auf den Marktplätzen sprecht ihr mit Leuten, die die Folgen der Treuhand selbst erlebt haben, die also schon darüber Bescheid wissen. Was erhofft ihr euch dadurch?
Jette: Auf der einen Seite wollen wir erst einmal überhaupt mit den Leuten ins Gespräch kommen. Wir lernen viel von ihnen über die Zusammenhänge in den neunziger Jahren, über die biographischen Brüche. Und dann kann das Treuhand-Thema auch als eine Art Türöffner für andere Gespräche dienen, in denen wir mehr bieten können als zum Beispiel die AfD. Wir wollen die Ursachen auf strukturelle Probleme legen und nicht auf einen Kampf untereinander. Und ich glaube, die Leute akzeptieren das auch
Stefan: Was wir auch immer mehr merken: Es fehlt ein ostdeutsches Erzählen. Es fehlen die Plattformen auch in Gesamtdeutschland über den Osten zu sprechen. Wir wollen zum Beispiel die Erinnerung der Leute daran zurück holen, dass es immer auch linke Proteste im Osten gegeben hat: Da gab es die Hungerstreiks in Bischofferode und die Demonstrationen von arbeitslosen Menschen gegen die Hartz-Reformen. Nur haben die im Vergleich zu rechten Protesten kaum Aufmerksamkeit erfahren.
Wie sollte diese neue Erzählung denn aussehen?
Jette: Wir wollen darüber sprechen was es für akute Probleme gibt: Die unterschiedlichen Tarife in Ost und West. Die unterschiedliche Berechnung von Renten, die erst 2025 angeglichen werden sollen. Warum nicht jetzt? Das sind konkrete Dinge, die sich ändern müssen. Es ist doch offensichtlich: Die AfD ist schon tausend Mal entlarvt worden. Alle wissen, dass sie rassistische und antisemitische Positionen vertritt. Trotzdem bekommt sie so viel Zulauf in Ostdeutschland. Wie kann man dem begegnen?
Wie schafft man es, Menschen, die früher PDS und Linke gewählt haben, abzuhalten die AfD zu wählen?
Und wie kann man das schaffen?

Stefan: Die Frage nach der AfD wird meinem Gefühl nach vor allem aus Westdeutschland gestellt. Wir haben das Problem mit Rechten seit der Wende, das ist nichts Neues für uns. Die Auseinandersetzung mit Rechten, das ist ein ostdeutsches Thema. Wir sind deshalb in gewisser Weise auch geschult im Umgang mit einem Rechtsruck. Und wir merken: Wenn wir die konkreten Probleme der Leute thematisieren und auf ihre Wunden aufmerksam machen, dann kommen wir auch ins Gespräch über Fragen von Rassismus und, dass es eine Kontinuität von Rassismus seit der DDR gibt, dass es damals und heute ein Problem war und ist, dass es genutzt wird, um Menschen gegeneinander auszuspielen. Es ist ja klar, dass man die Wahlerfolge der AfD nicht nur durch die wirtschaftliche Situation erklären kann.
Aber seid ihr nicht eigentlich viel zu spät dran?
Jette: Ja, klar sind wir spät. Aber sicher nicht zu spät. Dieses Jahr schauen alle nach Ostdeutschland auch abseits der Nazi-Schlagzeilen. Das ist eine große Chance für uns, daran anzuknüpfen und Aufmerksam zu machen
Stefan: Ich merke persönlich, dass es die Zeit gebraucht hat, um diese Debatten heute zu führen. Viele Ostdeutsche verspüren eine gewisse Scham, darüber zu reden. Viele haben das Gefühl, ihre Erwerbsbiographie in der DDR wurde entwertet. Anscheinend ist erst jetzt ein Zeitfenster offen, um darüber zu sprechen. Aber wenn wir das jetzt nicht bereden, dann wird sich die unbearbeitete Wut anders kanalisieren.
Wie können denn nach den ganzen Gesprächen konkrete Aktionen aussehen, um das anzugehen?
Stefan: Wir wollen aufzeigen: Was für emanzipatorische Momente gab es in der Nachwendezeit, was kann man ins Heute transferieren, was waren Leerstellen, was hat nicht geklappt?
Indem wir unsere Erzählung in die Öffentlichkeit tragen, hat das auch Konsequenzen für die Gegenwart. Zum Beispiel: Wie können wir als zivilgesellschaftliche Akteure zusammen kommen, um Druck von unten zu machen.
Jette: Unsere Vorbilder sehen wir in 1989, als sich extrem viele Menschen über Monate gesammelt und etwas erreicht haben. Daran anknüpfend wollen wir eine Bewegung sein, die alle Menschen anspricht.